In diesem Buch habe ich mich auf eine Lebensgeschichte konzentriert, auf einen einzigen Fall, der kein Einzelfall ist. Heinz’ Vergangenheit bestimmt seine Gegenwart, gerade deshalb, weil so vieles aus der Heimzeit unbestimmt ist. Im öffentlichen Gedächtnis bleiben, wenn überhaupt, eine Wundererzählung über das segensreiche Wirken des Gründungsdirektors und einige
Jubiläumsartikel über eine Heimstatt für Jungen und Mädchen aus "schwierigen Verhältnissen". Kein gedrucktes Wort über Sadismus, Gewalt, Ausgeliefertsein, Bedrohung, die es dort auch gab.
Heinz hat dafür Worte gefunden. Ich habe sie in die Mitte dieses Buches gestellt. Im Radio würden wir von ungeschnittenen O-Tönen sprechen. Die Abwehrreaktionen des Publikums höre ich gleich mit: Bewiesen sei nichts; es gebe so viele, die gute Erfahrungen gemacht haben und dem Heim viel verdanken; die Erinnerung traumatisierter Menschen könne trügen. Und wenn dann doch stimmen sollte, was Heinz erzählt, hätten nicht auch die Stadt, das Jugendamt, die Schule dem Jungen helfen können? Schuld sei weiß Gott nicht allein.
Nein, schuld sind nicht allein Kirche und Caritas. Heinz’ Kindheit und Jugend hätte anders – besser – sein können, wenn sich an verschiedenen Stellen Erwachsene für ihn interessiert hätten, wenn er gefördert worden wäre, wenn er als Mensch wahrgenommen worden wäre.
Aber die Caritas steht noch immer für das Gute, für die Sorge um die Schwachen, für soziale Wärme. Ihre Vertreterinnen und Vertreter bemühen in öffentlichen Debatten gern das Wort Lebensschutz, betonen die Würde des Embryos wie des Sterbenden. Mit dem Guten, das kirchliche Sozialverbände zweifellos tun, verrechnen Politikerinnen und Politiker gern das Schlimme. Als könnten die Opfer sexueller Gewalt mit Suppenküchen aufgewogen werden. Anders als in Irland hat keine deutsche Bundesregierung die Initiative ergriffen, um den vielfachen Missbrauch von einer unabhängigen Kommission untersuchen zu lassen. Einer der Gründe: Der Staat ist auf die kirchlichen Sozialverbände angewiesen, das Verhältnis bleibt kooperativ. Eine Schuldgeschichte verlangt Konfrontation.
Klassismus gegen das Kind aus der Barackensiedlung
Als Vollwaise war Heinz einer totalen Institution schutzlos ausgeliefert. Schwach ist, wer niemanden hat, der sich für ihn stark macht. Heinz war der Schwächste im System. Eine leichte Beute. Das Schuldbekenntnis auf der Homepage des früheren Heimträgers fällt so allgemein aus, dass sich Heinz davon kaum gemeint fühlen kann.
Der Klassismus gegenüber dem Kind aus der Barackensiedlung setzt sich fort. 2011 versprachen Deutsche Bischofskonferenz, Evangelische Kirche in Deutschland, Caritas und Diakonie, die Geschichte der Heime werde untersucht. Entsprechende Aufträge an Forschungsteams bleiben aus, Ergebnisse erst recht. Kaum jemand fragt nach, was aus dem Versprechen wurde. Meine Mails stiften ein wenig Unruhe in den Pressestellen, manche Reaktion klingt nervös. Auf- oder wenigstens Zuarbeitungsehrgeiz lösen meine Fragen nicht aus.
Seit mehr als zehn Jahren befasse ich mich mit sexualisierter Gewalt in den Kirchen. Tausende Gutachterseiten habe ich gelesen und hunderte bischöfliche Bekenntnisse gehört von der Sorte: Ich bin erschüttert. Ich bitte die Opfer um Verzeihung. Ich habe Fehler gemacht. Sätze aus der Verantwortungsverdunstungsmaschine. Einen Satz aber spuckt der Apparat nicht aus,
einen Satz sagen Hierarchen nie: Die Kinder waren uns egal. Oder: Einer wie Heinz hat uns nicht interessiert. Stattdessen: Es waren die Verhältnisse. Der Zeitgeist. Der Schutz der Heiligkeit der Kirche. Das Jugendamt.
Das gepflegte Arrangement herablassender Nächstenliebe
Ich war nichts wert. Heinz sagt diesen Satz oft. Nach zwei Jahren Recherche komme ich zu demselben Ergebnis: Kinder wie er galten noch in den 1960er-Jahren als minderwertig. Für eine Institution, die sich dem Lebensschutz verschrieben hat, ergibt sich daraus bis heute eine gewaltige moralische Fallhöhe. Mein Verdacht: Es gäbe viele Heinze zu entdecken, wenn nach ihnen gesucht würde.
Frau Florin, wie schaffen Sie es eigentlich, sich jahrelang mit »solchen Themen« zu beschäftigen? Wie halten Sie das aus? So fragen mich Christenmenschen, wenn ich in Gemeinden aus meinen Büchern lese. Gern würde ich erwidern: Wie schaffen Sie es eigentlich, sich mit »solchen Themen« nicht zu beschäftigen? Wie geht das in einer Glaubensgemeinschaft, die sich auf einen Gott beruft, der als Kind in die Welt kam? Die einen Bergprediger verehrt, der »Selig sind die Armen«
sagte?
Als Arbeiterkind hätte ich eine Antwort: Es geht dann wunderbar zusammen, wenn Christentum ein
bürgerliches Distinktionsmerkmal ist, wenn es irgendwas mit Werten meint und die Deklassierten abwehrt, sobald sie etwas einfordern, anstatt dankbar Almosen entgegenzunehmen. Heinz fordert, kämpft, schuftet. Er fügt sich nicht ins gepflegte Arrangement herablassender Nächstenliebe.
Meistens schlucke ich in jüngster Zeit solche Rückfragen und Antworten hinunter. Zu vorwurfsvoll,
zu anklagend, zu belehrend. Appelle ans Gewissen gehen ins Leere. Es gibt nach institutioneller Logik Wichtigeres als die Schuldgeschichte. Immer. Ethische Überlegungen stören den Betriebsablauf, moralische Instanzen bleiben die Kirchen weiterhin.
Macht heißt: Tun, was man kann, und unterlassen, was man kann. Niemand schreibt den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden vor, ob und wie sie sich ihrer Geschichte stellen, ob und wie sie für die Opfer so etwas wie Gerechtigkeit herstellen. Diese Machtverhältnisse haben sich nicht verändert. Auch wenn die Kirchen kleiner werden, bleiben sie gegenüber den Gedemütigten stark. Es muss irgendwie weitergehen mit der Institution. So sehen es die Hierarchen, so sieht es eine Mehrheit an der dünner werdenden Basis.
Was ich tatsächlich antworte, wenn mich jemand fragt, wie ich diese Recherchen »aushalte«: Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, sage ich dann. Ich kann irgendwann abschalten und am nächsten oder übernächsten Tag weiterschreiben über das Unrecht.
Heinz kann das nicht. Das Unrecht hört nicht einfach auf, es verschwindet nicht aus dem Kalender wie der Zuhörnachmittag, zu dem ihn die Caritas eingeladen hatte. Niemand hat zu ihm gesagt: Dieser Präses und die Erzieherin haben dir Schlimmes angetan und wir übernehmen dafür die Verantwortung. Wir schauen uns das Schlimme und unseren Anteil daran genau an. Stattdessen: waswissenwirschon? Warumwollensiedaswissen?
Er und die anderen Heimkinder bleiben mit ihren Erinnerungen allein, stigmatisiert. Deshalb teile ich Heinz’ Fall, der kein Einzelfall ist. Deshalb habe ich dieses kleine Buch über den Keinzelfall geschrieben.
Heinz, der Aufarbeiter
Einen Tag vor Christi Himmelfahrt 2024 schickt mir Heinz eine WhatsApp-Nachricht. Er fahre zum Campingplatz, um mit Freunden Vatertag zu feiern. Er hoffe, dass er den Kopf freibekomme. Im Schichtbetrieb, ohne Pause, arbeitet in Heinz weiter, was ich über seinen Vater herausgefunden habe, und vor allem: was ich nicht herausgefunden habe. Zum ersten Mal meldet er sich zu einer Therapie an. Seine Nachricht klingt wie eine Kapitulation, als sei es eine Niederlage, dass er, der Aufarbeiter, die Sache mit seinem Vater nicht aus eigener Kraft schafft. Niemand kann das mit sich allein ausmachen, schreibe ich ihm.
Wut und Verzweiflung machen nicht Feierabend,
Mut und Hoffnung auch nicht.
Heinz wünscht sich, dass dort, wo er und die anderen gequält wurden, ein Denkmal steht.
Ich frage beim Bundesverband der Caritas nach. Ein regionaler Gedenkort sei nicht geplant, lautet die Antwort per Mail. Man lege den Schwerpunkt auf Aufarbeitung und das Gespräch mit den Betroffenen. Eine kühne Behauptung. Genau diese Aufarbeitung wird verwehrt, weil sie schwierig ist. Oder, wie es der vom Heim beauftragte Wissenschaftler einst formuliert hat: Aufarbeitung sei »kein leichtes Unterfangen«.
Heinz wäre bereit, das Unterfangen zu erleichtern.
Wenn schon keine Gedenkstätte, dann wenigstens eine Tafel an der Kirche des Heims, schlägt er vor. Man muss keine Namen nennen, man muss nicht mal Missbrauch schreiben, sagt er. »In Erinnerung an die misshandelten Kinder« soll darauf stehen.
Der Text ist eine gekürzte Fassung des Schlusskapitels von "Keinzelfall". Patmos Verlag 2025. 160 Seiten.
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