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AutorenbildChristiane Florin

Die Wahrheit ist ein Gummiband

Die römisch-katholische Kirche beansprucht, „die Wahrheit“ zu besitzen. Tatsächlich wird oft ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit sichtbar. Aufrichtig zu sagen, wie es wirklich war, ist mutmaßlich nur eine Option unter vielen, keineswegs die erste oder wichtigste.




Zur Erinnerung: Joachim Meisner antwortete in einem DLF-Interview 2015 auf die Frage, was er 2010 vom sexuellen Missbrauch gewusst habe, er habe „nichts geahnt, nichts geahnt“. Das Zitat ist ein Kölner Klassiker geworden, vor allem nach dem November 2020.


Die Lüge wird zum Sünderlein spiritualisiert


Meisner hat nicht ein bisschen geflunkert oder nur die halbe Wahrheit gesagt. Er hat gelogen. Das lässt sich nicht mit einem Wir-sind-alle-kleine-Sünderlein wegspiritualisieren. Seine Stimme zeigt an dieser Stelle im Interview nicht die kleinste Unsicherheit. Es klingt so, als sei es für ihn, den mächtigen Kölner Erzbischof, den Kardinal, den Papst-Vertrauten, selbstverständlich, öffentlich die Unwahrheit zu sagen. Seine Verteidiger führen an, dass er dies im Namen einer höheren Wahrheit getan hat, dass er ein tapferer Kämpfer gegen den Zeitgeist war, dass er die (sexual-)moralischen Positionen der Kirche verteidigen wollte, dass er an die Heiligkeit seiner Kirche geglaubt hat. Da hätte es schlecht gepasst, wenn er öffentlich erklärt hätte: „Ich wusste schon lange, dass es massenhaft sexualisierte Gewalt in meiner Kirche gibt, dass wir den Opfern nicht gerecht geworden sind, dass wir über persönliche Schuld von hochrangigen Klerikern und über systemische Risikofaktoren sprechen müssen.“ Die Option, aufrichtig zu sagen, wie er selbst Missbrauchsbetroffene behandelt hat, schien für ihn nicht in Frage zu kommen.


Wenn der Heilige Stuhl spricht


Als ich gestern die Erklärung des „Heiligen Stuhls“ zum Erzbistum Köln las, fiel mir erneut der taktische Umgang mit der Wahrheit auf. Die erste Berichterstattung konzentriert sich auf die Frage: Was ist mit Woelki? Muss er gehen, darf er bleiben? Das ist verständlich, aber zu wenig.


Wenn man sich darauf beschränkt, gehen vermeintliche Kleinigkeiten unter, die von dem oben beschriebenen größeren Zusammenhang zeugen. In dem Schreiben steht zum Beispiel: „Die Behauptungen, der Kardinal habe, insbesondere durch das anfängliche Zurückhalten einer ersten Studie, vertuschen wollen, wird durch die inzwischen publizierten Fakten und die durch den Heiligen Stuhl geprüften Dokumente widerlegt.“


Hier wird eine Behauptung „widerlegt“, die so nicht aufgestellt wurde, jedenfalls nicht von Journalistinnen und Journalisten, die gründlich recherchiert haben, und das waren viele. Es war bekannt, dass auch das erste Gutachten der Kanzlei WSW Woelki persönlich keine Pflichtverletzung nachweist. Allerdings trifft das WSW-Gutachten moralische Urteile, denn zum Prüfauftrag gehörte das „Selbstverständnis der Kirche“, nicht nur Kirchenrecht und weltliches Recht. Diesen Prüfauftrag hatte übrigens auch Gercke.


Die WSW-Untersuchung reduziert den Umgang der Verantwortlichen mit Missbrauch nicht auf individuelles Fehlverhalten, sondern zeigt ein System der Empathielosigkeit und macht Empfehlungen, die weit über einen bessere Aktenführung hinausgehen (Welche das sind, kann man im Aachener WSW-Gutachten nachlesen).


Wer ist schreiend rausgelaufen?


Wenn man das erste, unveröffentlichte Gutachten gelesen hat, aber erst recht, wenn man einzelne „Aktenvorgänge“ selbst recherchiert, stellen sich Fragen an alle, die in diesem System mitgemacht haben. Was wussten sie? Hätten nicht auch jene Würdenträger eine ethische Hilfspflicht gehabt, die zwar keine Personalverantwortung hatten, aber viel gewusst haben müssen? Wo blieb ihr Einsatz für die „Geringsten“, zu dem Katholikinnen und Katholiken laut Selbstverständnis der Kirche aufgerufen sind?


Fragen dieser Art wurden Rainer Maria Woelki bei einer der Pressekonferenzen im März gestellt. Wie war es möglich, im Erzbistum Karriere zu machen, ohne etwas mitzubekommen und ohne - wie mein Kollege Georg Löwisch von Christ&Welt wissen wollte - schreiend rauszulaufen angesichts des Unrechts gegen über den Opfern? Um einen Vertuschungsvorwurf im juristischen Sinne ging es da nicht. Was also hat der Vatikan da „geprüft“ und „widerlegt“?


Im Brief aus Rom zur Causa Heße steht etwas vom „Größeren Kontext“, damit wird Heße persönlich entlastet. Im Brief des „Heiligen Stuhls“ von gestern steht dazu nichts. Wenn die Personen, die zum Größeren Kontext gehört haben, bleiben, bleibt dann nicht auch der Größere Kontext?


Meine Ausführungen zu den paar Brief-Zeilen sind lang geworden. Wer bis hierhin gefolgt ist, sieht womöglich an diesem kleinen Beispiel, wie elastisch der Umgang mit der Wahrheit ist. Nos sumus testes.




PS: Aus gegebenem Anlass weise ich noch einmal auf eine Recherche vom Dezember 2020 hin. Der genannte Fall wird in beiden Gutachten dargestellt .


https://www.deutschlandfunk.de/sexueller-missbrauch-im-erzbistum-koeln-der-priester-der.886.de.html?dram:article_id=489235

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