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AutorenbildChristiane Florin

Die Frage

Kommen Sie auch zu DER Pressekonferenz? Stellen Sie dann auch DIE Frage? Mehrere Mails dieser Art bekam ich vor einigen Tagen. Mit "der" Pressekonferenz ist die Vorstellung der Forum-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche gemeint, mit "der" Frage meine Wortmeldung bei der Präsentation der MHG-Studie im September 2018. Damals wollte ich von den vollversammelten römisch-katholischen Bischöfen wissen: "Eine Frage noch zur persönlichen Verantwortung. Hier sind jetzt über 60 Bischöfe versammelt, gibt es einen oder zwei, die im Zuge ihrer Beratungen gesagt hätten: Ich habe so viel persönliche Schuld auf mich geladen, ich kann diese Verantwortung des Amtes nicht mehr tragen?"


Es ging also nicht, wie später oft verkürzend gesagt wurde, vor allem um Bischofs-Rücktritte, das R-Wort hatte ich bewusst weggelassen. Die Schlüsselbegriffe waren Schuld, Verantwortung und Amt.




Die Pressekonferenz habe ich mir am Donnerstagabend auf youtube angesehen, die Studie danach auszugsweise gelesen. Ich hätte DIE Frage so nicht stellen können, weil zu meinem Erstaunen in Hannover die Bischöfinnen, Bischöfe und Präses der Evangelischen Kirche nicht vollversammelt waren. Auffällig auch: Kirsten Fehrs, Landesbischöfin und seit dem Kurschus-Rücktritt amtierende EKD-Ratsvorsitzende, hatte das erste Wort. Ihre Erklärung lässt sich auf der EKD-Homepage nachlesen: Erschütterungserschütterungserschütterungserklärung, Bitte um Entschuldigung, Respekt vor den Betroffenen. Öffentliche Schuldbekenntnisse von Schuldexpert*innen sind - unvermeidlich - Auftritte.  Kurz blitzt am Ende die Frage ans Publikum auf: Na, wie war ich? Alles richtig gemacht?


Katholische Zahlen, evangelische Zahlen


Zum Glück machen auch wir von den Medien zuverlässig vieles falsch. Wir sind zahlenfixiert, gerade bei emotionalen Themen wie Missbrauch schaffen Zahlen scheinbar Distanz und Objektivität. Natürlich wurden auch gestern in den Agenturmeldungen und Berichten die Statistiken zuerst genannt, obwohl sie kaum etwas aussagen. Von der "Spitze der Spitze des Eisbergs", sprachen die Wissenschaftler. Wie groß der Eisberg ist, hat noch keine Forschung in der moralischen Polarzone erfasst.


Die Zahlen sind allenfalls auf den zweiten Blick mit denen der MGH-Studie vergleichbar, dennoch werden sie verglichen nach dem Muster: Welche Kirche hat mehr Betroffene, wer mehr Beschuldigte? Ein wesentlicher Unterschied: Die Studie im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz hat sich auf Priester und Diakone als Beschuldigte konzentriert, das Forschungsdesign im Auftrag der EKD umfasst dagegen auch nicht-ordinierte Personen. Ein weiterer Unterschied: Die Forum-Studie schließt Einrichtungen der Diakonie ein, das MHG-Team hingegen hatte nicht die Anweisung, auch die Caritas zu untersuchen, etwa die Heime.


Dennoch trauen sich einige Kommentatoren recht mutig Aussagen darüber zu, dass es in der evangelischen Kirche genauso viel sexualisierte Gewalt gibt wie in der römisch-katholischen. Und das - eine beliebte Figur - "obwohl es für evangelische Pfarrer keinen Zölibat gibt" und obwohl Frauen ordiniert werden. Als hätten Menschen, die sich seriös mit sexualisierter Gewalt befassen, vorher behauptet, der Zölibat und die Männerbündelei seien Ursachen sexualisierter Gewalt. Es sind zwei begüngstigende Bedingungen unter mehreren im System römisch-katholische Kirche. Meine lila Replik lautet: Frauen sind keine Missbrauchspräventionsgeschöpfe, Gleichberechtigung hat einen eigenen Wert, ganz ohne MHG-Studie.


Mythos Pfarrfamilie


Spezifisch evangelische Bedingungen sind die Kulturinstitution Pfarrhaus als Hort von Bildung und Wohlanständigkeit, der Mythos "Heile Pfarrfamilie", das Selbstbild, eine Klerikalismus-freie Zone zu sein. Über das Konfessionelle hinaus gibt es kirchliche Faktoren, theologische, christliche. Bei einer der wichtigsten Bedingungen - Machtverleugnung - herrscht traute Ökumene. Konfessionell verbindend ist zudem, dass Missbrauch in allen kirchenpolitischen Lagern vorkommt, Täter tragen Turnschuhe, Täter tragen den von der Ehefrau gestärkten Talar. Ebenso ökumenisch sind die Schuldzuweisungen, Missbrauch komme gehäuft im jeweils anderen Lager vor.


Die evangelische Kirche beweist mit der Forum-Studie Mut zur zynischen Vernunft. Es gehört Traute dazu, den Forscherinnen und Forschern erst zu versprechen, dass Personalakten untersucht werden können, die Dokumente aber dann in 19 von 20 Landeskirchen nicht herauszugeben. Aus machtpolitischer Sicht ist das vernünftig: Auf diese Weise gewinnt eine Institution Zeit, nachdem sie sich 14 Jahre Zeit gelassen hat, unbehelligt von mächtigen Kontrolleuren. Zur Erinnerung: 2010 war auch für die evangelische Kirche ein Missbrauchsskandaljahr. Da trat die Hamburgische Landesbischöfin Maria Jepsen zurück, nachdem der "Fall Ahrensburg" bekannt geworden war.


Im Reich des Phrase Unser


Apropos Mut: Katharina Kracht erzählt seit einigen Jahren öffentlich davon, wie viel Kraft sie gebraucht hat, bis sie mit ihrer eigenen Missbrauchsgeschichte gegen die Allmacht der Tätererzählung durchdrang. Gestern morgen war sie im Deutschlandfunk zu hören, danach sprach sie in Hannover bei der Pressekonferenz. Kurz ging sie auch auf uns zahlen- und aktenfixierte Medienmenschen ein, auf jene, die schon vorher wussten, dass die Studie aufgrund der Datenlage das Papier nicht wert sei, auf dem sie geschrieben ist.


Sie ist es wert. Denn auf dem Papier steht endlich zu lesen, was die Betroffenen berichten, was so lange geleugnet und bagatellisiert wurde. Sie erzählen davon, wie strategisch ihre Täter vorgingen, sie erzählen davon, was passsierte, als sie den Missbrauch aufdecken wollten, sie erzählen davon, wie Vertreter*innen der Institution sie ignorierten, drangsalierten und abservierten.


Die Opfer wurden unter Druck gesetzt, dem Täter zu vergeben. Wobei im Reich des Phrase-Unser-Sprechs (Danke an Philipp Gessler und Jan Feddersen für die Wortschöpfung) von Druck nicht die Rede ist. In der Studie heißt es: "Das Bedürfnis nach Vergebung wird an Betroffene adressiert. Korrespondierend dazu betont eine kirchenvertretende Person die Wichtigkeit des Beziehungsaufbaus und des Lernens 'auch zu vergeben und die Hand zu reichen.'" Wenn sich Betroffene auf das Handspiel einlassen, erscheine es der Institution möglich, sich "helfend und heilend" zu präsentieren. Wäre das hier eine Whats-App-Nachricht, würde bei "Beziehungsaufbau" und "Lernen" ein Emoji in Übelkeitsgrün dazustellen.


Bebt da was?


Solche Passagen sind nicht bloß eine wissenschaftlich nüchterne Analyse. Dass es gedruckt und beglaubigt dort steht, gibt Betroffenen einen Teil ihrer Lebensgeschichte zurück. Sie wussten oft nicht und sollten nicht wissen, wer wie wann in der Kirchenhierarchie etwas tat und unterließ.


Der Bericht hat fast 900 Seiten. Wenn ich mit meinen Büchern durch die Gemeindesäle der Republik toure und das Publikum frage, wer die weniger umfängliche MGH-Studie wirklich gelesen hat, gehen nur wenige Hände nach oben. Vielleicht ist das in der Sola-Scriptura-Konfession anders, vielleicht wird das Werk durchgearbeitet. Bisher sind nur wenige evangelische Gemeinden dadurch aufgefallen, dass sie diese Schuldgeschichte aufarbeiten wollten. Sollte die Basis auf die Leitungsebene Druck ausgeübt haben, dann ist mir das entgangen. Viele Christenmenschen schienen recht zufrieden damit zu sein, dass eine intensive Befassung mit "dem Thema" auf sich warten ließ. Wenn ich "Basis" schreibe, kommt von evangelischer Seite: Typisch katholische Sichtweise, bei uns gibt es kein Oben und Unten, wir sind eine demokratische Kirche der Freiheit. Auch da färbt sich das Emoji giftgrün.


Das Beben, das nicht stattgefunden hat, wird erfahrungsgemäß schnell abmoderiert. Die politischen Reaktionen auf die Forums-Studie fallen wie immer gediegen unverbindlich aus. Es wäre ein Wunder, wenn der Aktenzynismus vor aller Augen zu einer wirklich unabhängigen Aufarbeitung führen würde.


Schutzschutzschutzschicht


Mich beschäftigt nach vielen Gesprächen mit Betroffenen, nach der Lektüre 1000er Studienseiten, nach dem Durcharbeiten durchgestochener interner Papiere noch immer eine Frage an diejenigen, die Amt und Verantwortung haben, die so lange "Nichts-Geahnt" sagen, bis ihnen dann doch frühe Kenntnis nachgewiesen wird: Was war in dieser Situation wichtiger als die Kinder und Jugendlichen?


Schädige niemanden. Schütze die Schwachen. Das sind ethische Prinzipien, für die es kein Theologiestudium braucht und für die man auch nicht die Weihnachtsgeschichte vom Kind in der Krippe auswendig können muss. Was führte dazu, dass diese Grundsätze des Menschseins nicht galten und zugleich stets mahnend der Mensch gewordene G*tt beschworen wird?


In den bisherigen Bekenntnissen heißt es in trauter Ökumene: Wir haben Fehler gemacht, der Schutz der Institution ging vor den Schutz der Schutzbefohlenen. JetztstehenwiranderSeitederBetroffenen.


Wie schon oft gesagt und geschrieben: Ich glaube nicht an diese Schutzschutzschicht. Nach meinen Erfahrungen ist die Münze viel kleiner: Wichtiger ist in der jeweiligen Situation die klerikale Karriere, die Angst vor Konflikten, die persönliche Bekanntschaft mit dem Der-kann-die-Jugendlichen-begeistern-Beschuldigten, die Gewissheit, dass nichts rauskommt und dass man, wenn es rauskommt, eine wohlklingend versöhnliche Erzählung darüberstülpen kann. Angesichts dieser Konkurrenz schrumpfen Kinder und Jugendliche zur Kleinigkeit, nicht der Ethik wert.


Vor einigen Monaten nahm ich an einer Tagung in einer Evangelischen Akademie teil. Es ging um das Verhältnis von Kirche und Politik. Referenten erinnerten an jene Zeit, als Regierungsmitglieder darauf hörten, was evangelische Denker zu sagen hatten. Gendern muss man an dieser Stelle nicht.


Na, wer war ich? Der Protestantismus war eine intellektuelle und moralische Instanz. Das sei vorbei, hieß es auf der Tagung. Es klang gekränkt.




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Wie nach der Lektüre Ihrer letzten 5-10 vorangegangenen Beiträge bin ich dankbar für die Schärfe Ihrer Kritik an den Machthabern in den Kirchen, Ihre Hartnäckigkeit bei der Lektüre hunderter Berichtsseiten, Ihre Empathie mit den betroffenen Opfern, Ihr journalistisches Formulierungsgeschick.


Meine besten Freunde engagieren sich (anders als ich selbst) vorbildlich innerhalb ihrer evangelischen Kirchengemeinde für das Allgemeinwohl und gerade für die Schwachen aus Dankbarkeit für eigene (zum Glück ausschließlich) positive Erfahrungen in der Jugend. Das bringt, so sehe ich es, im menschlichen Bemühen, Komplexität zu reduzieren und die Welt und darin auch die eigene Kirche als heil sehen zu wollen, mit sich, dass sie Ihre Kritik an Machtausübung, SchutzSchutzSchutzSchichten und Phrase-Unser-Worthülsen nicht mit dem Gefühl aufnehmen können wie ich, nämlich: „Es…


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