Als Jugendliche spielte ich regelmäßig Orgel in der Kirche. Zunächst „für Gotteslohn“, wie es auf meine zaghafte Frage nach einer Aufwandsentschädigung hieß. Später zahlten Gottes dörfliche Stellvertreter 10 Mark. Zwei bis drei Wochentagsmessen um 8 Uhr waren schnell beschallt. In harte Musikwährung umgerechnet reichte das für eine Platte von Joan Baez oder Konstantin Wecker.
Von der Orgelempore hatte ich einen guten Überblick: Die Einteilung in Männer- und Frauenseite war zwar längst abgeschafft, aber die Morgenmessengemeinde saß nach Geschlechtern getrennt, viele Frauen in der Mitte, wenige Männer rechts, alle im gehobenen Alter. Die Männer trugen eierschalenfarbene Anoraks, die Frauen etwas Pflegeleichtes. Niemand saß dort im Anzug, niemand im Business-Kostüm. Klischeehaft gesagt: Es waren kleine Leute, die an etwas Großem teilhaben wollten. Am Erhabenheitsgefühl, das Wörter wie Herrlichkeit, Heiligkeit und Ewigkeit verströmten. Was auf -ung, -heit und -keit endete, kam in ihrer Alltagssprache kaum vor, abgesehen von Dung vielleicht.
Vors Großwerden hat die Liturgie jedoch das Sich-Kleinmachen gesetzt. "Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld". Das sprach die Wochentagsgemeinde besonders inbrünstig. Mea Culpa, mea Culpa, mea maxima Culpa – so viel Latein konnten auch jene mit acht Jahren Volksschule.
Anders als die meisten Wörter mit -ung-, -heit und -keit gehörte "Schuld" sehr wohl zu unserer Alltagsprache. Wenn eine Scheibe zerdeppert war oder ein Der-jeht- nisch-mehr-raus-Fleck auf der juuten Sonntagstischdecke entdeckt wurde, ertönte zuverlässig die Erziehungsberechtigtenfrage „Wer!War! Dat?“ Sie erschallte so lange, bis jemand zugab: „Isch.“
Unsere Umgangssprache unterschied nicht zwischen Handlung und Handelndem. Eine Person hatte nicht Schuld an etwas. Sie war auch nicht schuldig. Sie war schuld. "Ich bin schuld" - so kindlich redeten sogar die Erwachsenen. Ein Satz mit Verantwortung oder Mitverantwortung kam ihnen nicht über die Lippen. Dann lieber schweigen.
Das Milieu der kleinen Katholikinnen und Katholiken kenne ich gut genug aus eigenem Erleben, um gegen eine Idealisierung von der Sorte „arm, aber ehrlich“ gefeit zu sein. Wenig Geld bedeutet nicht mehr Aufrichtigkeit. Dennoch frage ich mich: Ist Schuldbewusstsein nur etwas für Menschen in beigen Blousons und Kittelschürzen? Wächst sich das raus mit dem Studium der Theologie, mit der Weihe, mit jeder Stufe auf der klerikalen Karriereleiter?
Ich war's nur ein bisschen
Stefan Heße, Erzbischof von Hamburg, antwortete im Christ&Welt-Interview auf die Frage, ob er Schuld auf sich geladen habe: „Schuld nein, Mitverantwortung ja.“ Culpa-Cancelling. Mea Mitverantwortung also.
Im Zwischenbericht des Bistums Mainz ist von „Verfehlungen der Bistumsleitung“ die Rede, auch so ein Wort aus dem -ung, -heits- und -keits-Kosmos. „Bischof xy räumt Fehler ein“ lautet die gängigste Geständnis-Zeile, als habe die hohe Geistlichkeit in einer Bach-Fuge ein paar Mal in einem Pedallauf danebengetreten.
Robert Zollitsch, früherer Vorsitzender der Bischofskonferenz und Ex-Erzbischof von Freiburg, sprach in einem Video 2018 von Fehlern, für die er wen auch immer um Verzeihung bittet. Werner Thissen, in leitender Stellung in mehreren Diözesen tätig, gestand in einem Gespräch mit der Kirchenzeitung von Münster „schwere Fehler“. Der amtierende DBK-Vorsitzende Georg Bätzing machte eine Wahrscheinlichkeitsrechnung auf, als ihn der WDR im März dieses Jahres nach der Wahrheit über seine Zeit als Generalvikar von Trier fragte: „Ich kann nicht 100 Prozent ausschließen, dass ich keine Fehler gemacht habe“, sagte er in der Sendung "Diesseits von Eden".
So klingen keine Einzelfälle, so klingt Clerical Culpa-Cancel-Culture.
Missbrauchsmanagement
Am vergangenen Sonntag erzählte die Journalistin Christina Zühlke in der ARD-Dokumentation "Missbraucht!“ die Geschichte des Betroffenenbeirats des Erzbistums Köln. Wer sich hier engagiert, stellt die Kleine-Leute-Frage: Wer war's? Wer hat vertuscht? Wer ist schuld?
In einer Szene verlassen Bischöfe mit schweren Aktenkoffern ihre Vollversammlungsstätte in Fulda. Trügen sie keine römischen Priesterkragen, könnte man sie für Banker im mittleren Management halten. Auch jene Bischöfe, die bei anderen Fragen stets ganz genau wissen, was Gott will und welche Kirche Jesus gestiftet hat, zeigen hier höchstens mediokre Führungskräfte. Rainer Maria Woelki sagt im Gehen unwillig einen Satz ins Mikrofon, als erinnere er sich nicht mehr daran, dass er einst entschlossen Namen von Verantwortlichen nennen wollte.
Was Bischöfe so reden und handeln lässt, wie sie reden und handeln, ist nicht einfach zu erklären. Wissen sie wirklich so wenig wie sie sagen? Das erscheint angesichts ihrer in Jahrzehnten erworbenen Insider-Kirchenkenntnisse wenig glaubhaft.
Sind sie von Bösartigkeit und Empathielosigkeit getrieben? Ohne aufrichtiges Bekenntnis, bleibt dieser Generalverdacht.
Wie wäre es mit der Aussage: „Ich habe in meiner früheren Funktion den Opfern nicht geholfen, weil ich mich nicht getraut habe, dem Bischof zu widersprechen. Ich wollte ja noch etwas werden in der Kirche“? Wie wäre es mit dem Gedankengang: „Ich wollte den Betroffenen glauben, aber der Beschuldigte war ein Kommilitone/Vorgesetzter/Vorbild von mir“? Wie wäre es mit der Feststellung: „Die Kleriker-Familie aus Brüdern, Söhnen, Vätern und Übervätern ist mir so wichtig, da haben die missbrauchten Kinder und Jugendlichen einfach gestört“?
Ich war's nur ein bisschen
Der Erzbischof von Hamburg verteidigt sich im Christ&Welt-Interview wie ein von der Pausenaufsicht ertapptes Kind auf dem Schulhof. Er gibt zu: Ich war’s ein bisschen, aber ich war’s nicht allein. Im Wortlaut: „Wenn die Fälle zu mir kamen, habe ich bei nächster Gelegenheit Kardinal Meisner informiert genauso wie den Generalvikar. Ich hatte mit dem Generalvikar jede Woche einen Jour fixe von einer Stunde, mit dem Kardinal in der Regel auch… Ich habe jeden Fall Kardinal Meisner direkt dargelegt. Und habe ihn immer auf dem aktuellen Stand gehalten.“
Heße wurde 2006 Personalchef, später Generalvikar. Sagt er die Wahrheit, war der frühere Erzbischof von Köln spätestens 2006 gut unterrichtet. Joachim Meisner hatte jedoch in einem Deutschlandfunk-Interview 2015 auf die Frage, wie er die Enthüllungen im Missbrauchsskandaljahr 2010 erlebt habe, geantwortet: „Ich habe nichts geahnt, nichts geahnt." Gegenüber der Interviewerin, der Chefredakteurin des DLF, hob er zweimal den Erziehungsberechtigten-Zeigefinger: „Jetzt passen Sie mal auf!“
Wer aufpasst, bemerkt: Die Aussagen der Erzbischöfe passen nicht zusammen. Wer aber passt schon noch auf? Vor allem die Betroffenen und ein paar Medienmenschen.
Das Gros der kleinen Katholikinnen und Katholiken von heute macht es den Herren im mittleren und gehobenen Missbrauchs-Management nicht schwer, erst recht dann nicht, wenn sie einen Bischof nett oder nützlich finden.
In jüngster Zeit haben Medien Namen genannt. Die jeweiligen Fans legen die alten Platten auf, als sei nicht geschehen. Meisner? RIP, Tote können sich nicht wehren. Lehmann? RIP, guckt auf Meisner. Heße? Da soll ein Reformer auf dem Synodalen Weg von Kölner Konservativen zur Strecke gebracht werden. Woelki? Ein tapferer Streiter für die Wahrheit. Ratzinger? Als allergrößter Theologe aller Zeiten über jeden Verdacht erhaben.
Schuld mag früher etwas für die da unten gewesen sein. Jetzt ist Schuld einfach nur von gestern.
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